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symbologist-thief-betrayal.txt
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Writing Prompt: The symbologist gives birth to the thief. It's about betrayal. The genre/topic: past and future.
Lina löste einen der vielen Drähte aus der Halterung an ihrem rechten Unterarm. Mit ihrer geschickteren linken Hand führte sie ihn vorsichtig in das Schloss in der schweren Metalltür ein. In der rechten hielt sie eine Art Stift mit einem Widerhaken, der bereits im Schloss steckte. Einige Sekunden lang bewegte sie kaum merklich den Draht, dann sprang die Tür mit einem leisen Klicken auf. Lina lächelte und verstaute ihre Werkzeuge wieder, den Draht am Unterarm und den Stift in einer Tasche an ihrem Gürtel. Sie zog die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurch passen würde, hielt dann kurz inne und lauschte, und betrat schließlich den Raum dahinter.
Einen gewissen Respekt musste sie der Cygnus Corp durchaus zollen. Sie hatten an der letzten Tür auf ein elektronisches Schloss verzichtet, weil es anfällig gegen Angriffe aus der Ferne war. Wenn man jedoch erst einmal nahe genug heran gekommen war, dann war auch ein klassisches mechanisches Schloss nur eine Unannehmlichkeit, die es auszuräumen galt. Lina hatte quasi ihr ganzes Leben lang geübt, sich Zugang zu verschaffen, der ihr eigentlich verwehrt bleiben sollte, und unbemerkt zu bleiben, wenn tausend Augen sie aufzuspüren versuchten - sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Celeste war eine ruhige, bodenständige Frau gewesen, voll theoretischer Erwägungen und abstrakter Modelle. Es hatte ihr nicht an Liebe zu ihrer einzigen Tochter gemangelt, doch schon in jungen Jahren hatte Lina Bedürfnisse an den Tag gelegt, die zu erfüllen sich ihre Mutter außer Stande gesehen hatte. Wo Celeste sich nach Ordnung sehnte suchte Lina die Kreativität, wo die Mutter Regeln folgte suchte die Tochter nach Grenzen und deren Überschreitung. Lina hatte es ihr nie übel genommen, doch schon viel früher als andere Kinder hatte sie angefangen, auf eigenen Beinen zu stehen, wörtlich und im übertragenen Sinn, und eigene Wege zu gehen. Natürlich mochte es auch damit zusammen hängen, dass sie ihren Vater nie kennengelernt hatte. Doch ob alles anders gekommen wäre, wenn er geblieben wäre, war eine müßige Frage, mit der Lina sich nicht aufhielt.
Der Raum hinter der Tür war nicht groß, gerade einmal ein paar Schritte im Quadrat. Überall standen Vitrinen, an den Wänden und in zwei Reihen in der Mitte des Raumes. Die verschiedensten Gegenstände waren hier ausgestellt: uralte Bücher, elektronische Gadgets, präparierte Pflanzenteile, Landkarten. Lina erfasste sofort Ihr Zielobjekt. Vorsichtig, aber ohne zu zögern, schritt sie auf die entsprechende Vitrine zu, während sie sich nach Kameras, Fallen oder ähnlichem umsah. Ihre Kleidung schützte sie bereits vor vielen Sensoren. In ihren nachtschwarzen Overall waren verschiedene elektronische Komponenten eingewebt, die sie für die meisten Überwachungsgeräte fast komplett unsichtbar machten. Ihre Stiefel aus Karbonfaser waren unglaublich leicht und erlaubten extrem leise Schritte. Ihr kinnlanges schwarzes Haar wurde von einer dünnen Mütze verdeckt, die ebenfalls elektronisch präpariert war. Ihre smaragdgrünen Augen huschten ständig hin und her und ließen sich kein Detail entgehen. Auf ihrer linken Wange und an der linken Seite ihres schmalen Kinns prangten jeweils eine Narbe, die sie als Erinnerung an frühere Abenteuer behalten hatte.
Vor dem Glasschrank angekommen scannte sie kurz die gesamte Konstruktion. Ein schwaches Signal ging von einem kleinen schwarzen Kästchen in einer der oberen Ecken aus - ein Sensorarray. Lina holte eine ebenfalls schwarze flaches Scheibe aus ihrer Gürteltasche und drückte sie an die Außenseite der Glasscheibe, wo sie haften blieb. Nach wenigen Sekunden ging ein grünes Licht an und bestätigte, dass die Sensoren nun weiter "alles in Ordnung" berichten würde, egal was mit der Vitrine passierte. Die letzte Hürde in Form eines weiteren mechanischen Schlosses war schnell genommen, dann öffnete Lina die Glastür und nichts trennte sie mehr von ihrem Zielobjekt.
Das Symbologon war ein Ikosaeder, gerade so groß, dass Lina ihn komfortabel in einer Hand halten konnte. Jede Fläche zeigte ein anderes Symbol. Die einzelnen Symbole waren so unterschiedlich, dass sie nicht einmal zum selben Alphabet zu gehören schienen. Manche der Symbole begannen zu leuchten, wenn man sie berührte, und wenn man mehrere Flächen in einer bestimmten Reihenfolge berührte, dann verschwanden manche Symbole und wurden durch neue ersetzt. Lina hatte keine Ahnung, wie das Symbologon funktionierte, oder was genau man damit tun konnte, aber es war der Höhepunkt des Schaffens ihrer Mutter gewesen. Für einen Moment fragte sich Lina, ob sie Verrat an Celeste beging, indem sie das Artefakt entwendete. Schließlich war es ihr ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass das Symbologon bei der Cygnus Corp bleiben sollte. Doch wüsste sie die Bedingungen, die das Unternehmen ihrem Werk auferlegte, würde sie sich im Grab umdrehen. Die meiste Zeit blieb ihr Werk unter Verschluss; nur ausgewählte Personen bekamen zu streng geregelten Zeiten Zugriff. Für Forschung und Lehre stand das Symbologon so gut wie nicht zur Verfügung. Für die Wahrnehmung der Allgemeinheit könnte es genauso gut gar nicht existieren. Und war Celeste nicht auch die öffentliche Verfügbarkeit ihrer Arbeit wichtig gewesen, und die Freiheit, mit ihren Werken zu forschen und sie zum Wohle aller zu verwenden? Jetzt wo Lina noch einmal darüber nachdachte war sie nicht mehr sicher. Genau genommen war ihrer Mutter doch Ordnung wichtiger gewesen als Freiheit.
Doch Lina hatte nun wahrhaft keine Zeit für derlei Zweifel. Sie hängte das Symbologon an eine Schlaufe an ihrem Gürtel, die sie speziell dafür angefertigt hatte. Vorsichtig verschloss sie die Vitrine mit Hilfe ihrer Drähte und entfernte den kleinen Störsender wieder vom Sensorkästchen. Zügig verließ sie den Raum und verschloss auch dessen Tür wieder. Kaum war sie damit fertig hörte sie ein Geräusch von weiter unten im Korridor. Sie erstarrte. Tatsächlich, auch ihre anderen Sensoren meldeten die Anwesenheit einer Person in der Nähe. Sie verfluchte sich, weil sie sich von ihren Gedanken ablenken lassen und einen Moment nicht aufgepasst hatte. Das Signal war bereits zu nahe für ausgefeilte Taktiken. Es gab jetzt nur noch zwei Optionen - Kampf oder Flucht. Sie machte sich nicht die Mühe, bewusst Für und Wider zu erwägen. Im Bruchteil einer Sekunde war die Entscheidung gefallen und sie rannte los, auf das Geräusch zu.
Sie war kaum fünf Meter weit gekommen, als jemand um die Ecke bog. Es war ein kräftig gebauter Mann in einer Uniform, die nach Sicherheitspersonal aussah. Er war bestimmt zwanzig Jahre älter als sie, aber seinem Äußeren zu urteilen konnte er es auch mit einem weit jüngeren Gegner problemlos aufnehmen. Lina hielt für zwei, drei Sekunden weiter auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich leicht, als er sie bemerkte. Sofort schnellte seine Hand zur Schusswaffe an seiner Seite. Lina ließ eine weitere Sekunde verstreichen. Erst als der Fremde die Waffe komplett aus der Halterung gelöst hatte und dabei war, sie auf Lina zu richten, ließ sie sich fallen und vollführte eine Rolle zur linken Seite, schräg auf die Wand zu. Sie stieß sich von der Wand ab und hechtete nach rechts, so dass sie sich im Zickzack auf den Sicherheitsmann zu bewegte. Mitten im Hechtsprung sah sie ihn für einen Moment direkt an. In den Ausdruck von Überraschung mischte sich noch etwas anderes. Er wirkte geradezu schockiert. Er hatte immer noch keinen Schuss abgegeben, sondern stattdessen die Schusswaffe leicht sinken lassen. Lina hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie landete auf der anderen Seite des Flurs und rollte sich erneut ab, bevor sie sich ein weiteres mal kräftig abstieß und ihr gesamtes Körpergewicht mit Anlauf gegen die Beine des anderen schleuderte. Gleichzeitig hörte sie endlich das ohrenbetäubende Knallen eines Schusses. Sie wartete auf den Schmerz einer Schusswunde, doch er blieb aus. Er hatte nicht getroffen.
Der Aufprall brachte den Wachmann zu Fall. Lina drehte sich geschickt weg, um nicht unter ihm begraben zu werden, und sprintete sofort weiter. Sie umrundete die Ecke, hinter der der Mann hervor gekommen war. Sie holte alles an Geschwindigkeit, was ihre durchtrainierten Beine hergaben, heraus. Aber es würde nicht reichen. Ihre Instinkte schrien es, und ihr Verstand bestätigte es verzweifelt. Der Gang vor ihr war zu lang. Der Sicherheitsmann würde nur wenige Sekunden brauchen, um sich wieder aufzurichten, und dann würde er um die Ecke kommen und hätte freies Schussfeld. Während ihre Schenkel anfingen, zu brennen, zählte sie im Kopf die Sekunden, die es dauern würde, bis der Mann aufgestanden war. Dann begann sie erneut, im Zickzack hin und her zu laufen und sich abzurollen, um ein möglichst schwieriges Ziel zu bieten.
"Halt! Stehenbleiben!" hörte sie hinter sich seine Stimme. Sie klang erstaunlich hoch für einen Mann dieses Körperbaus. Eine zusätzliche Dosis Adrenalin durchzuckte Linas Körper. Sie musste es schaffen. Sie konnte es nicht schaffen. Sie musste schneller laufen. Es war zu weit. Ihr Verfolger wartete länger, als er gemusst hätte, bis er einen weiteren Schuss abgab - und wieder verfehlte. Die schiere Erleichterung, nicht sterbend oder zumindest verwundet auf dem Boden zu liegen, gab Lina ein weiteres Stückchen Kraft, und machte sie vielleicht ein klein wenig übermütig. Kurz bevor sie die nächste Ecke erreichte, drehte sie sich völlig unnötig um. Der Mann machte keine Anstalten, noch einmal zu schießen oder sie zu verfolgen. Er sah ihr einfach nach. Dann war Lina im nächsten Korridor. Sie lief weiter, so schnell ihre protestierenden Muskeln es zuließen, doch bis zum Ausgang und darüber hinaus sah und hörte sie niemanden mehr. Draußen verschwand sie in den Schatten, aus denen sie gekommen war.
Lina wälzte die Ereignisse in ihrem Kopf hin und her. Warum war sie nicht tot? Warum saß sie nicht zumindest in einer unternehmenseigenen Zelle und erwartete ihr Schicksal? Sicher, sie hatte alles gegeben, was sie an Können, Körperbeherrschung und Kraft zur Verfügung hatte. Aber es hätte nicht genug sein dürfen. Es war nicht genug gewesen. Mindestens einer der Schüsse hätte treffen müssen. Eigentlich beide. Und selbst wenn nicht, dann hätte der Mann sie weiter verfolgen müssen. Er hatte sie entkommen lassen, daran bestand gar kein Zweifel. Warum hatte er das getan? Sie hatte geglaubt, in seinem Gesichtsausdruck mehr als die zu erwartende Überraschung zu sehen. Es hatte so gewirkt, als wäre er nicht nur überrascht, überhaupt jemanden hier zu finden, sondern ausgerechnet Lina zu finden. Doch wieso sollte er sie kennen? Sie war ihm nie begegnet. Hatte er ihre Mutter gekannt? Celeste hatte mehrfach mit der Cygnus Corp zusammen gearbeitet. Vielleicht hatte der Wachmann ihre Mutter kennengelernt, oder sie zumindest gesehen, oder sie gar heimlich bewundert, und vielleicht hatte er zufällig ein Bild von Lina gesehen. Hatte er sie um ihrer Mutter willen davon kommen lassen? Lina löste das Symbologon aus der Schlaufe an ihrem Gürtel und drehte es in der Hand. War da mehr in der Vergangenheit ihrer Mutter, von dem sie nichts wusste, als ihr klar war? Machte das Linas Verrat noch gravierender? Die Fragen überschlugen sich in ihrem Kopf. Sie wusste nur eins: dass sie so keine Ruhe finden würde. Sie musste noch einmal hinein. Sie musste der Cygnus Corp einen weiteren Besuch abstatten.