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Ravik.txt
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Er wurde verfolgt. Zuerst war es nur ein vages Gefühl gewesen, doch inzwischen war er sicher, dass ihm jemand auf den Fersen war. In der hügeligen Landschaft hatte man immer wieder Gelegenheit, sich von einer Kuppe aus einen Überblick über die Umgebung zu schaffen, und mehrfach hatte er dabei eine Gestalt in seine Richtung gehen sehen. Er hatte einige willkürliche Haken geschlagen, und der Fremde hatte sich stets weiter auf ihn zu bewegt. Ravik war erschöpft; er war schon lange unterwegs und hatte sich nur kurze Rasten gegönnt. Sein Verfolger schien dieses Problem nicht zu haben, denn er kam stetig näher. Wenn Ravik es bis zum Wald schaffen würde, könnte er vielleicht im Schutz der Bäume entkommen. Doch das war fraglich, denn bis zum Waldrand war es noch etwa eine Tagesreise, und er hatte nur noch wenige Stunden Vorsprung. Vielleicht sollte er seine Kräfte für einen eventuellen Kampf sparen und sein Tempo verlangsamen. Möglicherweise war es auch gar kein Feind, der ihn da verfolgte. Doch auf sein Glück wollte er sich nicht verlassen. Das hatte er schon sehr strapaziert, als es ihm gelungen war, einen von Golgaraths Soldaten zu töten und zwei weiteren zu entkommen. Das beste war wohl doch zu versuchen, so schnell wie möglich den Wald zu erreichen.
Weglaufen hatte keinen Sinn mehr. Der Fremde war rasch näher gekommen, und von den rettenden Bäumen trennten ihn noch mehrere Stunden zügigen Marsches. Ravik bahnte sich keuchend seinen Weg durch ein dorniges Gestrüpp, von dem er gerade wieder die Hoffnung aufgab, dass es ihm ein wenig Deckung bieten würde. Er warf einen Blick über die Schulter und sah die Gestalt mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zu kommen. Noch war sie zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können, doch es sah nicht so aus, als trüge sie die dunkle Uniform von Golgaraths Männern. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sein Verfolger ihn eingeholt hatte. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren, und die drückende Sommerhitze tat ein Übriges. Lang würde er sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Er sah sich nach einem Versteck um, doch vor ihm breitete sich eine grasbewachsene Ebene aus, und die Hügel rechts und links von ihm würde er nicht rechtzeitig erreichen. Dann musste wohl doch das Gestrüpp herhalten. Er warf sich zu Boden und kroch ein paar Meter weiter hinter einen größeren Busch. Nach Luft ringend spähte er durch das Geäst. Der Fremde schien nicht besonders groß zu sein. Er konnte dunkles Haar und grünliche oder bräunliche Kleidung erkennen. Ravik zuckte ein wenig zusammen, als sein Verfolger mitten im Lauf etwas zu rufen begann. Er konnte die Worte nicht verstehen, doch die Stimme klang hell und ein wenig dünn, und eigentlich nicht aggressiv. Dennoch legte Ravik sein Kurzschwert bereit, während er weiter versuchte, seinen Atem und seinen Herzschlag zu beruhigen. Nur noch wenige hundert Schritt trennten ihn von dem Fremden, und langsam konnte er ihn deutlicher sehen. Irgendetwas irritierte ihn an seinem Anblick. Wieder rief er etwas, und Ravik glaubte etwas wie "warte" und "Freund" herauszuhören. Er kniff die Augen zusammen. Die schlanke Figur, das lange Haar, die helle Stimme... Es war eine Frau.
Die Fremde hatte ihre Schritte verlangsamt und näherte sich mit ausgebreiteten Händen. Sie trug eine grobe braune Lederhose und ein dunkelgrünes Wams. Ihre braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf ihrem Rücken konnte er einen Rucksack erkennen, und an ihrem Gürtel hing ein Schwert in einer einfachen Scheide.
"Lauf nicht davon, ich bin ein Freund!" rief sie noch einmal. Ihr Blick schweifte noch einen Moment suchend umher und blieb dann an seinem kläglichen Versteck haften. Sie hatte ihn entdeckt. Um sich auf sie zu stürzen oder sich sonst in eine vorteilhafte Position zu bringen war sie noch zu weit weg.
"Komm heraus, ich will dir nichts tun", versicherte sie. Tatsächlich wäre es nicht gerade die beste Taktik, sich mit offenen Armen vor ihn zu stellen, hätte sie ihn angreifen wollen. Er sah sich kurz um; auf der Wiese und den nahen Hügeln schien sich sonst niemand aufzuhalten. Zögernd richtete er sich halb auf.
"Wer bist du und was willst du?" fragte er, immernoch schwer atmend.
"Ich bin Alenia. Der Weiße Ring schickt mich", erklärte sie, die Stimme auf normale Lautstärke gesenkt. "Du bist Ravik, nicht war? Ich soll dich nach Ortungbjorg begleiten."
Verwirrt sah Ravik sie an. Nachdem wirklich keine unmittelbare Gefahr von ihr auszugehen schien, hatte sich Ravik davon überzeugen lassen, das Gestrüpp zu verlassen und sich mit ihr auf die angrenzende Wiese zu setzen. Beide waren wieder einigermaßen zu Atem gekommen und taten sich nun an ihren Wasserschläuchen gütlich.
"Ich habe überhaupt nichts mit dem Weißen Ring zu schaffen. Und ich schaffe es schon auch alleine nach Ortungbjorg."
Alenia wischte sich mit dem Ärmel ein paar Schweißtropfen von der Stirn. "Der Weiße Ring hält dich anscheinend für wichtig genug, jemanden zu deiner Unterstützung zu schicken. Ich weiß leider auch nicht viel mehr, als dass ich dich sicher in die Stadt bringen soll."
Eine Frau! Sie schickten eine Frau, um ihn zu beschützen! Und was wollte überhaupt der Weiße Ring von ihm? Er wüsste nichts, was er für diesen weltfremden Haufen gebrechlicher Möchtegern-Gelehrter hätte tun können, geschweige denn wollen. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Mit all den Golgarathern die sich überall breit zu machen begannen war die Lage viel zu ernst für so einen Unsinn.
"Wie stehst du eigentlich zum Ring? Du siehst nicht aus, als wärst du eine von denen."
"Ein guter Freund von mir arbeitet für den Weißen Ring. Er konnte mir nicht alles erklären, aber ich vertraue ihm, und er hat mich darum gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen."
"Ich sehe keinen Grund, irgendetwas für diese werten Herren zu tun, schon gar nicht, wenn man mir nicht sagt, worum es geht." Er bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. "Und außerdem brauche ich niemanden, der mich beschützt", fügte er hinzu.
Sie zog eine Augenbraue hoch. "'Schon gar nicht eine Frau' wolltest du sagen?"
"Weder eine Frau noch sonst jemanden", sagte er ein wenig trotzig. Immernoch verwirrt und ein wenig verärgert starrt er in die Ferne und überlegte, was er von der Sache halten sollte.
Nach einer Weile ergriff Alenia erneut das Wort.
"Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr sagen kann. Ich weiß auch nicht viel, nur dass es wichtig ist. Und dass es sich zu zweit sicherer reist als allein. Was sagst du?"
Er musterte sie noch einmal. Sie schien es ehrlich zu meinen. Aber der Gedanke, einer Frau nach Ortungbjorg hinterherzulaufen, missfiel ihm nicht wenig.
"Entkommen werde ich dir wohl nicht so einfach, das habe ich ja schon gemerkt", brummte er.